15.06.2023, Die besondere Situation von Frauen auf der Flucht

Online Reihe „Frauen und Frieden“ im Heinrich Pesch Haus

Durch sexualisierte Gewalt, ein traditionelles Rollenverständnis, die Verantwortung für mitreisende Kinder, Schwangerschaft und Menstruation haben Frauen andere Fluchterfahrungen und Bedürfnisse als Männer. Die Hilfsangebote sind dabei selten auf diese speziellen Bedürfnisse ausgerichtet.
Ändert sich das nun durch die Situation der ukrainischen Frauen? Rückt also das Thema insgesamt stärker in unser Bewusstsein? Oder werden die Frauen an den europäischen Außengrenzen jetzt erst recht vergessen? Was passiert überhaupt mit Frauen auf der Flucht?
50 Prozent aller Flüchtlinge sind Frauen und Mädchen.
Aktuell sind 110 Millionen Menschen nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR auf der Flucht. Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Kriegen, Konflikten, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen fliehen müssen, war noch nie so hoch wie heute.

Sie verlassen Haus und Hof, versuchen mit LKW, Gummibooten oder zu Fuß ihr Flück auf ein gesichertes Leben. Ziel: Europa. Da kommen aber die wenigsten an. Derzeit hat die Türkei 4 Millionen Geflüchtete aufgenommen, überwiegend aus dem Kriegsland Syrien.
Es folgt Deutschland mit 2, 23 Millionen Menschen, Pakistan mit 1,5 Millionen, Uganda mit 1,5 Millionen. Und nochmals: 50 Prozent von ihnen allen sind Frauen und Mädchen

Ich war, nach dem Sommer 2015 und den Bildern von der Balkan-Route, auf der Suche nach den Frauen auf der Flucht. Das ist jetzt aber schon wieder ein paar Jahre her.
In der Türkei hat sich die Situation auch nach dem Wahlsieg von Erdogan geändert. Erst wurden die Flüchtlinge willkommen geheißén, jetzt will man sie aber wieder loswerden. Auch und gerade weil sie sich integriert haben, in das Land, in die Bevölkerung. Sie nehmen den Türken den Platz weg, die Arbeit, die Wohnungen und Häuser. Sagen die.

Viele wollen auch darum zurück in die zerstörte Heimat, hinüber nach Syrien. Wie diese Frauen. Gegenüber die zerbombte Stadt Kobane, dort wollen sie wieder aufbauen.
Oder sie fliehen mit kleinen, gefährlichen Gummibooten von der Türkei hinüber nach Lesbos oder Chios.
Obwohl ein Abkommen zwischen der Türkei u der EU bestimmt, dass gegen Millionen Euro die Menschen sofort wieder zurück geführt werden sollten. Ist aber bis jetzt nicht passiert. Sie kommen unverändert auf Lesbos an, nachts, nach Stürmen und wildesten Passagen. Auch wenn es nur 9 Kilometer auf dem Meer sind. Moria, das Lager ist inzwischen abgebrannt, die Unterkünfte sind mehr als wackelig und bieten wenig Schutz. Vor allem: es geht kaum weiter hinüber auf das Festland. Meistens schaffen es die Männer. Lassen Frauen und Kinder zurück.

Jetzt aber ein Blick nach Afghanistan. Denn rund 80 Prozent der Menschen, die sich 2021 in Afghanistan auf die Flucht begeben haben, sind Frauen und Kinder. Ihre Lebensbedingungen sind besonders dramatisch und besorgniserregend. Nach dem Sturz des Taliban-Regime im Jahr 2001 hatte sich die Situation der Frauen zunächst verbessert. Das ist aber leider Geschichte.

Hamburg ist die Stadt mit den meisten Afghanen in Deutschland. Hinter Deutschland folgen mit großem Abstand Großbritannien, Schweden, Österreich, die Niederlande und Frankreich. Auch in den Flüchtlingslagern an den europäischen Grenzen leben tausende Flüchtlinge aus Afghanistan.
Die USA stehen bereit, Tausende aufzunehmen, die bereits als Ortskräfte ein spezielles Einreisevisum erhalten haben. Es geht um bis zu 22.000 Afghanen. Allerdings ist derzeit zweifelhaft, ob ihre Evakuierung bei den derzeitigen Zuständen vor Ort klappt.
Die Schweiz will vorerst keine größere Gruppe von Menschen direkt aus Afghanistan aufnehmen. Asylgesuche sollen nach dem üblichen Verfahren geprüft werden, erklärte die Regierung.
Österreich ist ebenfalls nicht bereit, künftig zusätzliche Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen. „Es gibt keinen Grund, warum ein Afghane jetzt nach Österreich kommen sollte“, hatte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) vor den Beratungen der EU-Innenminister am Mittwoch gesagt. Nehammer forderte, die Nachbarstaaten Afghanistans bei der Aufnahme von Flüchtlingen in die Pflicht zu nehmen.
Griechenland lehnt es ebenso ab, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Das Land will nach Worten von Migrationsminister Notis Mitarachi nicht das Einfallstor in die EU für afghanische Flüchtlinge werden. Auch die Türkei und Pakistan sehen bang eine weitere Flüchtlingswelle auf sich zurollen. Die Nachbarländer im Norden, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan, haben ihre Grenzen abgeriegelt.
Frauen und Frieden heißt heute mein Thema. Ich will mich mit Ihnen auch auf Grund der gerade genannten Fakten auf Afghanistan konzentrieren. Erstens, weil ich auch dort recherchiert habe, und zweitens, weil es in keinem Land der Welt, in keinem, den Frauen bitterer ergeht als dort. Und weil sie nicht mehr fliehen können. Nicht vor den regierenden Männern, den Taliban, und nicht in andere Länder. Das habe ich ja gerade erläutert.

Wenn ich Ihnen heute von der Situation der Frauen in Afghanistan erzählen darf, dann vielleicht zu Beginn erst mal ein paar Zahlen: Afghanistan ist fast doppelt so groß wie Deutschland. Und damit eines der größten Länder Asiens. Zur Zeit sollen es 37,5 Millionen Menschen sein, die dort leben, davon 11 Millionen Frauen und 14 Millionen Kinder. 60 Prozent von ihnen unter 25 Jahre.
Ich war 2014 in dem schönen Land am Hindukusch. Weil ich als Vize von UNICEF Deutschland in New York eine Liste gefunden habe mit der Überschrift: Wo es am gefährlichsten ist als Mädchen geboren zu werden. Auf Platz 1 :Afghanistan. Und das hat sich bis heute nicht geändert.

Schon damals war in keinem Land der Welt die Müttersterblichkeit höher, die Unterernährung der Kinder schlimmer. Schon damals ging keine Frau ohne einen männlichen Begleiter auf die Straße. Heute sowieso strengstens verboten. Aber: es gab damals auch viel Hoffnung. Die Taliban waren von den NATO-Bomben 2002 verjagt worden, es gab eine vermeintlich demokratisch gewählte Regierung und Milliarden US-Dollar flossen in das Land um einen Aufbau zu ermöglichen.
Das ist jetzt alles Geschichte.

Denn: Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban die Regierung. Die Amerikaner und die NATO-Soldaten haben sich auf die Socken gemacht und das Land sich selbst überlassen. Nach fast 20 Jahren Präsenz. Wir haben die Bilder gesehen, die Menschen, die verzweifelt in die Flieger kommen wollten um den Taliban zu entfliehen. Es wurden sogar kleine Kinder den US-Soldaten hinauf auf die Barrieren gereicht, in der Hoffnung, dass die Eltern nachkommen könnten. Dem war nicht so, wir wissen das.

Das alles ist schlimm und bitter vor allem aber: für die Frauen. Frauen dürfen jetzt überhaupt nicht mehr alleine das Haus verlassen, weder in Kabul noch auf dem Land. Mädchen dürfen nur bis zu ihrem 12. Lebensjahr in die Schule gehen. Dann beginnt ihre Pubertät, und sie werden zur käuflichen Ware der Väter. Dass sie bis zu ihrem 12. Lebensjahr überhaupt zur Schule gehen dürfen, das haben die Taliban nur auf Druck der internationalen Gemeinschaft eingeräumt. Eigentlich wollten sie, wie schon vor 20 Jahren, Mädchen komplett vom lesen und schreiben und denken fernhalten.

Dass sie jetzt doch wenigstens zur Schule gehen dürfen, hat vor allem mit der dramatischen finanziellen Lage dieses neuen Regimes zu tun. Denn sämtliche Gelder auf den Banken wurden vor der Machtübernahme der Taliban von der Ghani-Regierung auf ausländische Konten transferiert und dort von den Regierungen eingefroren.
Tausende von Frauen aber, die einst als Gouverneurinnen, als Geschäftsfrauen, als Journalistinnen oder Richterinnen in der Öffentlichkeit gewirkt haben sind innerhalb von Tagen in der Versenkung verschwunden. Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen sank zum Beispiel allein in Kabul die Zahl der der Frauen in den Medien von rund 700 auf 100. Beim staatlichen Sender RTA, wo bis vor dem Übernahme durch die Taliban noch 140 Journalistinnen arbeiteten, traut sich heute keine mehr zur Arbeit zu kommen Die privaten Frauensender haben komplett ihren Betrieb eingestellt.

Ich habe damals bei meinen Recherchen eine tüchtige junge Frau kennengelernt, die einen Radiosender in Kandahar betrieben hat: Maryam Durani, 36 Jahre jung. Auch sie, einst Preisträgerin „Frauen mit Mut“ ist in der Versenkung verschwunden, versteckt sich im Haus ihrer Eltern im Süden des Landes, im Taliban-Land.
Ein anderes Beispiel: Richterinnen. 300 waren in Amt und Würden unter Präsident Ashraf Ghani ( der als einer der ersten vor den Taliban geflohen ist…)
Weil diese gut ausgebildeten Frauen Verbrecher und Terroristen verurteilt und ins Gefängnis geschafft haben, sind sie in höchster Gefahr. Denn unter den verurteilten Männern waren auch Terroristen des sogenannten Islamischen Staates. Warum ist die Gefahr gerade für Richterinnen so groß ? Weil die Taliban einen Tag nach dem 15. August alle Gefängnisse geöffnet haben und alle Gefängnis -Insassen frei gelassen haben. Ohne Auflagen. Man kann sich lebhaft vorstellen, in welcher Angst und Gefahr diese Frauen jetzt leben. Eine sagt in einem Interview:“ Jetzt versuchen sich diese Männer zu rächen und uns zu finden…“ Sie habe Todesangst.

Bei meinen Recherchen habe ich auf dem Land immer wieder Hilfsorganisationen, zum Beispiel auch von UNICEF, eingerichtete Arztzentren für Frauen und Mädchen vorgefunden. Vor allem die schwangeren Frauen sollten dort betreut werden. Aber schon damals haben die Männer sich geweigert, dass ihre Frauen dorthin gehen. Selbst wenn eine Ärztin sie dort untersucht hat. Ein männlicher Arzt wäre überhaupt nicht möglich gewesen. Und heute, berichtet gerade aktuell ein Frauenärztin in der FAS, liegen die Gebärenden mit Schleier auf dem Tisch, bereit zur Geburt ihres Kindes. Von dem sie hoffen, dass es lebend zur Welt kommt.Vielleicht auch dazu einige aktuelle Zahlen: bei 100 000 Lebensgeburten in Afghanistan sterben 638 Babys. In Deutschland sind es 3,5.
Immer wieder haben sich dann Frauen in den Dörfern zusammen getan und sind am Sonntag, in islamischen Ländern ist Freitag der Feiertag, zu den Familien gegangen und haben versucht die Männer zu überzeugen, dass die Mütter- und Kindersterblichkeit beendet werden könnte, wenn die Frauen medizinisch betreut werden würden….auch das vermutlich Geschichte. Die Frauenzentren arbeiten jetzt überall im Geheimen. In täglicher Angst, dass sie von Taliban-Terroristen entdeckt werden könnten. Denn offiziell sind sie zu und verboten.

Dass ein Vater für seine Tochter entweder 6000 Dollar erhält, oder eine Kuh, ein Schaf, oder ein Stück Land ist normal. Denn Frauen und Mädchen sind bis heute in Afghanistan Eigentum der Männer. In allen kriegerischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre wurde den Frauen die Freiheit genommen. Vor allem durch eine patriarchale und die islamistische Haltung der Mudschaheddin, die wir jetzt Taliban nennen. Da diese Männer vor allem aus den ländlichen Provinzen kommen, ist ihnen die Freizügigkeit der Frauen in den Städten schon immer ein Dorn im Auge. Wobei ich „Freizügigkeit“ schon damals überhaupt nicht für die Frauen festmachen konnte. Maryan Durani zum Bespiel kam mit ihrem Vater, obwohl sie einen Führerschein hatte, durfte sie nicht alleine zum Interview fahren.
Alle Frauen im Land tragen eine Burka. Sie müssen. Ich habe mal eine probiert, du siehst wirklich nichts durch diese engen kleinen Gitter. Es drückt, schnell bekommt man Kopfschmerzen. Der Stoff ist heiß, lässt kaum Luft durch. Ich habe viele Frauen getroffen, die unter permanenten schweren Kopfschmerzen litten. Die unter Haarausfall leiden, unter Vitamin D-Mangel, weil kein Licht, keine Sonne an den Körper kommt.
Aber schauen wir uns auch noch mal das Rechtssystem an: Es gibt kein allgemeingültiges Rechtssystem für Frauen. Die Rechte, die ihnen von den Männern zugestanden werden, orientieren sich im Großen und Ganzen am islamischen Recht der Scharia. Die aber vor Ort frei interpretiert wird.
Erschwerend kommt hinzu, dass sie sich mit lokalen Traditionen vermischt. Also hat die männliche Bevölkerung auf diese Weise ein breites Instrumentarium zur Verfügung, die Rechtssauffassung immer ihren eigenen Bedürfnissen anzupassen. Für die afghanischen Frauen gelten also nicht die Prinzipien der Menschenrechte, sondern es gilt die Scharia, angepasst auf die Bedürfnisse der Männer.
Für uns im Westen steht die Scharia ja vor allem auch für Steinigungen und heftige Körperstrafen, für abgehakte Hände und Füße. Aber wörtlich übersetzt bedeutet Scharia „der deutlich gebahnte Weg“, manchmal auch „Weg der Tränke“. Muslimische Gelehrte leiten die Vorschriften, Empfehlungen Verbote aus den verschiedensten Quellen ab. Aus dem Koran, aus den Überlieferungen des Propheten, aus dem Konsens von Rechtsgelehrten. Die Scharia ist Auslegungssache. Und das macht sie so gefährlich für Frauen.
Vor der Machtübernahme der Taliban war die Lebenserwartung der Frauen bei 45 Jahren, so niedrig wie nirgends sonst auf der Welt. Dazu nahmen sich Jahr für Jahr über 5000 Frauen das Leben, z. B. mit Gift, aber auch durch eine Selbst-Verbrennung. Im letzten Jahr waren es 2500 arme Frauen. Die ihr Leben nicht mehr ausgehalten haben. Ich fürchte, diese Zahlen sind auch Geschichte, denn es wird schlimmer werden für die Frauen.
Mir hat mal jemand ins Stammbuch geschrieben: mein USP sei „Frauen, Kinder, Unrecht“. Und deshalb auch noch ein paar traurige Anmerkungen zur Situation der Kinder in Afghanistan. Schon bei meinen Recherchen habe ich so viele mangelernährte Kinder gesehen, Die zwei Kilogramm wiegen, obwohl sie vier Monate alt sind. Die nicht wachsen, weil ihre Mütter keine Milch haben. 17 Prozent der Babys in Afghanistan litten schon vor der Übernahme durch die Taliban an schweren Schäden am Knochengerüst.
Inzwischen aber ist die Lage für Kinder noch schlimmer geworden. Wenn die Temperaturen am Hindukusch auf Minus 25 Grad sinken. Wenn die Familien durch den Schnee von der Außenwelt abgeschnitten sind.
Die Afghaninnen kämpfen um ihr Überleben.
Auf der einen Seite ist der Krieg vorbei, der Krieg zwischen den NATO-Staaten und den Taliban. Aber mal wieder übernehmen mächtige Männer das Ruder und Frauen werden strikt verschleiert, und weggesperrt. Mädchenschulen sind geschlossen. Seit 100 Jahren sind die Frauen das Faustpfand der Machtspiele der jeweils in Afghanistan Herrschenden.