Bild am Sonntag
Sie wirken so verloren, die beiden jungen Frauen auf der Bettkante eines Gästezimmers der bengalischen Botschaft. Starren auf die Wand, können nicht begreifen, was um sie herum geschieht. Ich möchte sie am liebsten in die Arme nehmen- das darf man aber in Indien nicht in der Öffentlichkeit. Die Menschenrechtsorganisation Shakti Vahini hat die beiden an diesem Abend auf dem Bahnhof in Delhi aus den Fängen zweier Menschenhändler befreit. Zusammen mit der Polizeiinspektorin Sarbari Bhattacharya von der Menschenhandels-Einheit.
Das eine Mädchen, Sarifan, ist 15 Jahre alt. Sie sollte für rund 1 100 Euro verkauft werden. Mal wieder. Mit Hormonspritzen und Bier haben sie die Menschenhändler nicht nur älter, sondern auch runder und damit weiblicher gemacht. Damit kein Freier auf die Idee kommt, sie könnte minderjährig sein. Die andere heißt Muktidas. Sie ist 23 Jahre alt und wurde mit dem Versprechen auf eine gute Stelle als Hausmädchen von den Eltern auf dem Land weggelockt. Mehrfach verkauft, geschlagen, missbraucht. Dann Ganz zum Schluß landeten beide im Rotlichtviertel in Delhi. Vollgepumpt mit Drogen und Alkohol. Mit bis zu 50 Freiern am Tag und in der Nacht.
Die beiden jungen Frauen haben Glück. Vermutlich können sie wieder zu ihren Eltern zurück. Aber nur, wenn Shakti Vahini nicht verrät, dass sie Prostituierte waren.
Millionen andere Inderinnen aber werden täglich gekidnappt, verkauft, missbraucht und vergewaltigt. Ich habe so viele von ihnen gesprochen. Der Menschenhandel in Indien mit Frauen ist ein Milliardengeschäft.
Auch, weil in Indien dramatischer Frauenmangel herrscht. Fachleute sprechen von 50 Millionen Frauen, die fehlen. Die Folge: eine Männer-Gesellschaft. Die dadurch mi Frauen immer aggressiver umgeht. Die sich in Gruppen zusammenrotten, Frauen überfallen, vergewaltigen und sogar töten.
Kommen normalerweise in den Industrienationen statistisch 106 Jungen auf 100 Mädchen zur Welt, hat sich das in Indien von 94 Mädchen auf 100 Jungen umgekehrt. Der Grund: weibliche Föten werden seit über 30 Jahren vor der Geburt abgetrieben. Oder die neugeborenen Mädchen werden nach der Geburt getötet. Das ist zwar alles per Gesetz verboten, aber: „ 90 Prozent der Inder sind kriminell", schockt mich Charu Wali Kann, Rechtsanwältin der nationalen Kommission für Frauen. Mädchen werden abgetrieben und getötet, weil für sie Mitgift verlangt und bezahlt wird. Mädchen gelten als nutzlos und kosten nur Geld. Das ist die menschenverachtende vorherrschende Meinung – nicht nur von Männern, auch von Schwiegereltern. Die das Geld der Familie schwinden sehen. Denn Eltern zahlen bei der Heirat ihrer Tochter bis zu 15 000 Euro Mitgift. Plus Schmuck, Autos, Mofas und anderen „Geschenken" für die Familie des Ehemannes. Viel, viel Geld in einem Land, in dem 75 Prozent unter der Armutsgrenze lebt.
Kein Wunder, dass es unzählige Tricks gibt, das gesetzliche Verbot der Geschlechtsbestimmung eines Babys zu umgehen. Die Ärztin Mitu Khurana hat das leidvoll am eigenen Leib erleben müssen. Verheiratet mit einem Orthopäden in einer arrangierten Ehe wollen sie der Ehemann und die Schwiegermutter zu einer Amniozsintese, einer Geschlechtsbestimmung ihres ungeborenen Babys überreden. Als sie sich weigert bietet ihr der Schwager einem vergifteten Kuchen an. Sie muss in die Klinik- und der Arzt durchleuchtet nicht den Magen, sondern die Gebärmutter. Ergebnis: Sie erwartet zwei Mädchen. Jetzt beginnt ihr Horrortrip. Der Mann wirft sie mehrfach die Treppe herunter, die Schwiegermutter verweigert Essen und Getränke. Sie wird eingesperrt, immer in der Hoffnung, dass es zu einer Fehlgeburt kommt. Erst als die heute 36jährige Ärztin von ihren Eltern nach Hause geholt wird, hat sie keine Ängste mehr. Die Zwillinge kommen dann zwar zu früh zu Welt. Aber sie überleben und sind heute acht Jahre alt. Es läuft inzwischen eine schmutzige und teure Scheidung. Ihren Fall hat Mitu Khurani als bisher einzige Inderin öffentlich gemacht. Was ihr nicht nur Sympathien einbringt. Aber sie ist überzeugt:„ Ich will allen anderen Frauen Mut machen, sich gegen Abtreibungen ihrer Mädchen zu wehren", erzählt sie mir im Haus ihrer Eltern in Delhi. Denn Indiens Frauen leiden stumm. Aber allmählich erheben manche ihre Stimmen. Endlich.
Der schreckliche Vergewaltigungsfall der 23jährigen Studentin Nirbaya in Delhi ( wir berichteten darüber) hat wohl tatsächlich „eine Flamme für ein sichereres Indien" entzündet. Auch wenn es weiter täglich zu neuen Gruppenvergewaltigungen kommt. Aber: Immer mehr Frauen haben jetzt Mut und zeigen die meist jungen Männer bei der Polizei an. Die wiederum mit neuen Verordnungen die Frauen unterstützt und nicht mehr wie bisher missachtet und wegschickt. Dazu gehen in den indischen Millionenstädten nicht nur Frauen sondern auch Männer auf die Straße und protestieren gegen die Gewalt gegen Frauen. Täglich appellieren Journalistinnen in den großen Tageszeitungen, dass sich die Gesellschaft dringend ändern muss.
In einem Vorort der 17-Millionen-Stadt Delhi besuche ich eine Mädchenschule. Werde von der freundlichen Direktorin in eine Klasse mit 15jährigen Schülerinnen gebeten. Darf in einer altehrwürdigen Schulbank auf dem Podest Platz nehmen. Die Mädchen in ihren dunkelblauen Schuluniformen sitzen im Lotussitz auf dem Boden. Schnell gehen die Hände hoch und alle fragen immer wieder: „Wie sicher ist es in Deutschland für junge Mädchen bei Dunkelheit auf die Straße zu gehen?" Sie, so erzählen sie mir, sind alle ab 17 Uhr zuhause. Da geht keine mehr raus. Auch nicht in den Wohnungen oder Häusern, in denen es keine Toiletten gibt.( Über 80 Prozent in Indien). Es sei sowieso auch tagsüber sicherer, immer mit Begleitung hinaus auf das Feld zu gehen, erklärt mir die selbstbewusste 15jährige Asha. Auf meine Frage, ob sie denn alle einer von den Eltern arrangierten Ehe zustimmen würden, kommt ein erstaunlich klares: ja. Nur wenn sie gar nicht mit dem ausgesuchten Mann einverstanden wären, würden sie versuchen mit den Eltern noch einmal zu sprechen. Das ist die Realität im Jahre 2014.
Zurück in Delhi erlebe ich eine wirkliche kleine Verbesserung für das tägliche Leben der Frauen: in der blitzsauberen, neuen U-Bahn gibt es Frauenabteile. „Women only" steht da am Bahnsteig. Männer verboten. Die drängen sich in den anderen Waggons. Meine Übersetzerin Bindu Lall erzählt mir, dass die indischen Männer wohl ein besonderes Vergnügen daran finden, Frauen in Bussen oder Bahnen zu berühren. Sie pressen sich gerne unziemlich an sie und lieben es Frauen mit sexuellen Gesten zu verunsichern. Das ist jetzt zumindest in der U-Bahn nicht mehr möglich. Mich schüttelt es trotzdem bei dem Gedanken, was sonst auf den Straßen, in den Geschäften und Bussen immer noch so abgeht.
Aber nicht nur das Frauenabteil ist ein Zeichen der beginnenden Veränderung. Ein kleiner Schritt in ein selbstbestimmtes Leben für Frauen ist auch die Gründung der ersten ausschließlichen Bank für sie. Usha heißt die Chairfrau und Managerin. Im indischen Finanzministerium entstand die Idee. „Frauen sind zwar der Kopf der Familie, aber sie müssen im Geheimen sparen, damit die Ehemänner das Haushaltsgeld nicht für sich ausgeben," erklärt sie mir in ihrem schicken Büro über den Dächern Delhis. Jetzt können Frauen ihr eigenes Konto eröffnen, sich mit günstigen Krediten und einem kleinen Gewerbe selbstständig machen. Außerdem weiß Usha:"Frauen zahlen zu 98 Prozent ihre Kredite zurück- die Männer liegen da weit dahinter!"
Dennoch ist es noch ein weiter Weg, bis die Mädchen und Frauen des 1,22 Milliarden-Volkes ein sicheres und selbstbestimmtes Leben führen können. Bis Indien nicht mehr der gefährlichste Ort der Welt ist, eine Frau zu sein. Da müssen noch viele Lichter entzündet werden....