3. Tag
Nach der gemütlichen Morgenlektüre der Hindustan Times im Bett bei einem Kaffee geht mir die Überschrift über einen Kommentar ziemlich weit hinten im Blatt nicht aus dem Kopf : “I will vote as a woman“. Die Autorin erklärt, sie lasse sich nicht mehr von Ehemännern oder Eltern beeinflussen, wem sie ihre Stimme gebe. Das ist doch mal ein erster Schritt denke ich. Am heutigen Abend wird mir aber klar werden, wie weit die Inderinnen von einem eigen bestimmten Leben noch entfernt sind.
Christian Spreitz, der Fotograf der BamS ist heute früh gelandet, darf aber noch heute vormittag ausschlafen. Bindu und ich werden von unserem freundlichen Fahrer in einen der Vororte Delhi gebracht. Vorort? In Delhi, der 17 -Millionen-Stadt? Das ist Land pur, mit kilometerlangen Feldern voller Müll und Müllsäcken. Denn: Es gibt kein geordnetes Abfallverwertungssystem in Indien. Die Wege sind einen oberbayerischen Gebirgspfad ähnlicher als einem geordneten Feldweg. Allerdings ist viel mehr Verkehr, Radfahrer, erstaunlich große Autos, Motorräder mit mindestens drei Menschen auf den Sitzen. Ohne Helm. Und die Kinder vorne auf dem Lenker... Wir finden unsere Organisation DSP- Dalit Solidarity Peoples. Die Dalit, das ist die unterste Kaste, das sind die Armen, Ausgegrenzten. Es sind Hunderte Millionen. Eine hohe Stufe steigen wir hinunter in armselige Hüttenräume mit Betonfußböden und wenigen Plastikstühlen. Dünne Tücher bedecken die Böden, darauf sitzen rund 40 Frauen allen Alters und sehen uns erwartungsvoll an. Diese Frauen haben fast alle selbst Erfahrung mit häuslicher Gewalt, mit Vergewaltigung und Missbrauch. Aber hier tun sie sich zusammen um anderen zu helfen. Manchmal kommt sogar pro Bono ein Anwalt vorbei und gibt Rat. Sie erzählen mir Geschichten, die man gar nicht glauben mag. Von Ehefrauen, die mit vier Kindern von den Männern einfach aus dem Haus geworfen werden, und nicht wissen wohin. Die dann wieder zurück gehen, auch wenn sie geschlagen werden, und kein Geld für das Essen der Kinder bekommen. Denn das geht in seine Spielsucht. Oder von der hübschen 28jährigen Anjani aus Calcutta. Deren Eltern dem Paar zur Hochzeit für 500 000 Rupies, rund 13 000 Euro, ein Haus geschenkt haben. Mit allem Drum und Dran- Küche und Motorrad, Auto und Schmuck, Kleider und Wäsche. Doch der Mann schlug immer heftiger zu, flößte ihr ein Schlafpulver ein und sperrte sie ein. Als die Eltern sie überredeten nach dem Krankenhausaufenthalt doch wieder zurückzugehen, versuchte er sie zu erdrosseln. Erst DSP konnte ihr helfen. Das Haus ist verkauft, die Scheidung läuft, sie arbeitet wieder als Lehrerin und in ihrer freien Zeit für die DSP. Das aber ist nur ein Fall, einer von Tausenden alleine in diesem Vorort Delhis.
Die Not scheint groß, und trotzdem lachen mich die Frauen offen an. Freuen sich sichtbar über den Besuch aus Deutschland. Wir reden über die Kraft , die Frauen hier für ihr tägliches Leben aufbringen müssen. Über die wunderbare Solidarität hier in diesen kalten und überaus einfachen Räumen. Auch über Waffen, ob denn ein Pfefferspray helfen würde, wenn sie sich alle bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus, aus der Hütte wagen frage ich. Denn ihre Wohnungen haben allesamt kein WC...hier in diesem Vorort Delhis gehen sie auf´s Feld. Wie fast überall in Indien. Und immer mit sicherer Begleitung....Aber Waffen sind nicht nur verboten per Gesetz, nein Waffen würden ihnen auch ihre Männer sofort wegnehmen. Und sie noch mehr schlagen - dafür.
Aber die Frauen hier bei DSP sind auch sehr gastfreundlich. Es gibt heißen Chai in kleinen Gläsern und Kekse in einer Schale. Wir sollen ihnen verbunden bleiben, das erbitten sie. Eine Spende wollen sie nicht annehmen. Sie sind doch alle freiwillig hier, um mit mir zu sprechen. Der einzige Mann in der Runde, ein promovierter Altertumsforscher, weißt auf meinen Kugelschreiber hin. Das, so sagt er, sei meine Waffe. So habe ich das noch nicht gesehen....
Dennoch will ich die Frauen und ihre Kinder unterstützen und werde bei meiner Rückkehr auf meiner website einen Aufruf starten...jetzt haben wir ein wenig Zeit und vielleicht gelingt es ja Bindu meinen Wunsch nach einer Mädchenschule mit 14-16jährigen jungen Frauen zu erfüllen. Schon unser erster Versuch ist erfolgreich. An einem Samstag Mittag! Die Direktorin freut sich und füttert uns mit einem indischen heißen Gebäck, bevor wir in ein Klassenzimmer dürfen. Auch hier wieder: rund 40 erwartungsvolle Gesichter, die jungen Mädchen in Schuluniform sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Ich muss auf ein Podium in die einzige Schulbank im Raum. Bindu stellt mich vor und auf meine erste Frage, wann sie denn alle spätestens nach Hause gehen wird unisono beantwortet: um 17 Uhr, bevor es dunkel wird. Beim Heiratswunsch sind sie schon differenzierter-die Hälfte will heiraten. Wenn es sein muss auch den Mann, den ihnen die Eltern aussuchen. Wenn der aber gar nicht passt, dann würden sie auf alle Fälle die Eltern versuchen zu überreden, dass es nicht zu einer Ehe kommt. Wenn dann in der Ehe ein Baby erwartet wird, und es sicher ist, dass es ein Mädchen ist, wollen sie es auf alle Fälle bekommen und genauso wie einen Jungen aufziehen. Sie sind vehement mit ihren 16 Jahren gegen eine Amnioszentese, gegen die Abtreibung und unbedingt für gleiche Chancen ihrer noch ungeborenen Töchter. Ich erzähle noch so manches von den jungen Mädchen aus Deutschland. Und dann kommt die Frage, die sie wohl alle gemeinsam bewegt: Wie sicher sind deutsche Mädchen, wenn sie abends ausgehen? Wie urteilt ein Richter in Deutschland bei einer Vergewaltigung? Wie behandelt die Polizei eine Frau, die eine Vergewaltigung anzeigen will? Was machen die Eltern, die Familie?
Wieder einmal wird mir klar, wie sehr die Vergewaltigung der jungen Studentin vor genau einem Jahr und ihr Tod dieses Land und seine Frauen erschüttert hat. Wir fahren jetzt zu ihren Eltern, Bindu hat es geschafft, dass wir mit den beiden reden können.