rotarische Clubs in Springe/Deister und Hamburg/Wandsbek
Sie haben mich gebeten über das Thema „Kinderarmut in Deutschland „zu sprechen. Im Jahr 2023.Und da möchte ich gleich mit einem persönlichen Erlebnis beginnen. Das ist jetzt genau 20 Jahre her. Ich kam damals vom ZDF aus London zur ARD/NDR nach Hamburg. Dass London keine reiche Stadt ist, hat sich mir dort nach drei Jahren sehr wohl erschlossen. Hamburg dachte ich, diese wunderbaren Villen, der Hafen, alles sehr vermögend. Aber dann: verhungert ein Kind. Isst
vor Not seine eigenen Haare - und niemand bemerkt etwas. Der Fall der kleinen Jessica löst über die Hansestadt hinaus Entsetzen. Wir haben im NDR sofort berichtet, Teams hingeschickt, und ich bin, aus tiefster Seele Journalistin, auch selbst nach Jenfeld gefahren. Fassungslos. Ich entdecke die ARCHE, wo täglich damals schon 60 Kinder in Schlange stehen für ein Mittagessen. Wir drehen eine Reportage über Kinderarmut in Hamburg, in Deutschland. Wo Kinder noch nie in ihrem Leben den Hafen gesehen haben, und Tag für Tag ohne Frühstück in die Schule gehen.
Und heute? Ich habe mit Tobias Lucht telefoniert der leitet seit nun diesen 20 Jahren die Arche, und er gesteht: es ist schlimmer geworden, mit dem Hunger der Kinder, mit der Armut. Jedes fünfte Kind ist in diesem Land von Armut bedroht. So viele waren es noch nie.
Was läuft da schief? Dass 13 Millionen Menschen, Erwachsene und Kinder, armutsgefährdet sind, wie das so schön im Amtsdeutsch heißt. Dazu erleben wir eine Inflation sondersgleichen und explodierende Energiepreise. Verantwortliche Politiker fordern einen „Schutzschirm für Familien in Deutschland,“ und eine „armutsfeste Kindergrundsicherung“. Ziel der Ampel: Ende 2023. Und bis dahin? Hungern Kinder. Denn weder das neue Bürgergeld, noch Wohnzuschuss oder Kindergeldzuschlag helfen wirklich.
Sehen Sie mit mir auf die Gründe. Vor allem auch, warum die Dramatik dieses Problems anscheinend zwar in Zahlen aneinandergereiht wird, aber nichts, seit zwanzig Jahren, geschieht um das Thema anzugehen und den Kindern zu helfen.
Da steigt vor allem bei Alleinerziehenden, und das sind meistens Mütter, das Armutsrisiko ihrer Kinder. Ist in in unzähligen Studien nachzulesen- aber was geschieht?
500 000 Väter zahlen Jahr für Jahr keinen Unterhalt. Die Jugendämter können sie angeblich nicht ausfindig machen, sie zahlen lieber Geld an die Mütter. Richtigerweise wir zahlen, die Steuerzahler. Damit kann dann Essen gekauft werden, aber das alleine ist es ja nicht. Auch nicht, wenn die Mutter sich keine Waschmaschine kaufen kann, wenn die Kinder mit schmuddeliger, stinkender Kleidung in die Schule müssen. Von den Mitschülern darum gemobbt werden, die sich demonstrativ die Nase zuhalten. Kinderarmut ist sicherlich auch, keine Markenjeans zu tragen, keine teuren Ultraboost-Schuhe zu haben, keine Zahnspange mit den durchsichtigen Brackets ,die extra kosten. Nein, Kinder in Armut getrauen sich nicht Freunde nach Hause einzuladen. Weil die Wohnung zu klein ist. Sie wenden sich verschämt ab, wenn die anderen Kinder von Urlaubsreisen erzählen. Sie können nicht ins Schwimmbad, nicht mit ins Kino .Weil ihnen die Mutter die sieben Euro nicht geben kann. “Das Haushaltsgeld ist alle“, gesteht sie und jeder von uns ahnt, welchen Kummer ihr das macht.
Wenn ich schon von Zahlen spreche, dann darf ich nicht übersehen, dass der Anstieg der Armutsquote in Deutschland auch mit der hohen Zuwanderung von Minderjährigen zusammenhängt. Sie leben als Flüchtlinge eben auch unter der Armutsgrenze. Übrigens anteilig mehr im Osten Deutschlands und auch in Bremen. Wobei es vor allem sogenannte Mehrkinderfamilien sind, die von Armut betroffen sind. Das sind dann drei oder mehr Kinder. Wenn dann die Mutter noch zu den Alleinerziehenden gehört, wird es besonders bitter. 86 Prozent von ihnen sind auf Geld vom Staat angewiesen.
Alle Studien, alle Fachleute die sich mit diesem traurigen Thema auskennen, bestätigen: wer in Armut aufwächst, wird häufiger krank und ist schlechter gebildet. Diese Kinder haben schlechtere Bildungsabschlüsse, und später schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ein Teufelskreis. Dazu verstärken sich die gesundheitlichen Probleme, Armut macht krank. Vor allem Kinder.
Dabei brauchen wir die Kinder. Unsere Zukunft in diesem Land funktioniert nur, wenn wir den demografischen Wandel hinkriegen: die sinkende Bevölkerungszahl, die fehlenden Arbeitskräfte gerade im Mittelstand, hier werden bald Heranwachsende gebraucht. Schon jetzt sind Tausende Ausbildungsplätze nicht besetzt.
Ich habe im Fernsehen den 15jährigen Axel aus Berlin Marzahn erlebt. Seine Mutter erhält jetzt Bürgergeld, aber es reicht hinten und vorne nicht. Der Junge arbeitet neben der Schule in einer Kinder-Tagesstätte, er hilft seiner Mutter wo er nur kann. Und das hat mir so imponiert: er will Journalist werden, seine Familie aus der Armut herausholen. Dafür lernt er, auch abends bis 22 Uhr wenn es sein muss.
In Marzahn leben 39 Prozent der Kinder in Familien die einst Hartz IV, jetzt das Bürgergeld beziehen. Viele davon: auf der Straße. Axel sieht das und will das für seine Geschwister verhindern. Häufig erzählen ihm seine jüngeren Geschwister von Gewalt auf der Straße, von üblen Schlägereien. Axel und seine Geschwister erleben zumindest zuhause keine Gewalt. Hunderte der Kinder in Marzahn jedoch leben damit. Eltern arbeitslos, drogen- oder alkoholsüchtig, überschuldet und schlechte Bildungsabschlüsse. So dass deren Kinder betteln, Schuhe putzen oder Autoscheiben reinigen, Müll sammeln und letztendlich dann kriminell werden. Sie stehlen, verkaufen Drogen, überfallen andere Menschen oder prostituieren sich.
Stichwort Prostitution: gerade arme Mädchen prostituieren sich. Es gibt keine detaillierten Zahlen darüber. Ich habe jedenfalls keine gefunden. Aber Kinderprostitution, das bestätigen auch viele deutsche Kriminalbeamte, betrifft längst nicht mehr nur Mädchen und Jungen aus Rumänien, Bulgarien, Albanien. Nein, es sind deutsche Kinder, die sich so versuchen ein wenig Geld zu verdienen. Auch eine, zutiefst bittere Seite, der Kinderarmut.
Und wir? Machen wir uns bei unseren Sorgen über Corona, den Ukraine-Krieg, die Inflation und die steigenden Kosten von Öl, Benzin, Gas auch klar, was da in Deutschland geschieht? Ich entdecke unverändert ein fehlendes Bewusstsein in unserer Gesellschaft. Seit ich mich seit ML Mona Lisa-Zeiten mit diesem Thema beschäftige.
Sicher, Politiker und Politikerinnen, Organisationen und auch die Vereinten Nationen fordern Chancengleichheit für all die Kinder, die nichts dafür können, dass ihre Eltern arm sind. Eine Kindergrundsicherung ist für viele die Lösung. Das Modell sieht derzeit 573 Euro vor, die für jedes Kind und für jeden Monat garantiert sind. Es ist nicht einfach, denn es soll ja einkommensunabhängig funktionieren. Eltern mit kleinen oder mittleren Einkommen erhielten die gleiche Unterstützung wie Eltern mit einem hohen Einkommen. Hier muss also klug gerechnet werden. Scheint schwer zu sein….Sicherlich auch der Grund, warum die eigene Kindergrundsicherung außerhalb des Bürgergeldes noch nicht auf den Weg gekommen ist. Der paritätische Gesamtverband schlägt darum auch vor, das existenzsichernde Kindergeld bei Gutverdienern zu senken.
Da kann man jetzt nur zum Wohle der 2,7 Millionen Jugendlichen in Armut hoffen, dass bald gut gerechnet wird. Vor allem mit dem Blick in die Zukunft unserer alternden Gesellschaft.
Ich bin seit 1993 bei UNICEF. Erst im Komitee, dann acht Jahre als Vize im Vorstand. Jetzt wieder im Komitee. Und so will ich zum Ende meines kleinen Vortrages auf das Thema Kinderrechte kommen. Denn auch das hat viel damit zu tun, dass Kinder in Deutschland arm sind.
Denn, da sind wir uns wohl einig, Kinder haben Rechte. Eigene Rechte, Rechte, die nicht aus den Rechten der Eltern abgeleitet sind. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat das klar formuliert. Nur. Bei uns in Deutschland sind die Kinderrechte weder im juristischen noch im politischen Bewusstsein deutlich verankert. Nicht so, wie die Tiere und die Umwelt, die klar vom Grundgesetz geschützt werden. Ich fasse das jetzt mal provokant zusammen: Tiere werden vom Grundgesetz geschützt, Kinder nicht. Jetzt wird seit 30 Jahren, seit 30 !! über dieses Thema gestritten. Ich hole jetzt hier auch mal aus. Da wird argumentiert: Gilt die Verfassung nicht schon längst für alle Kinder? Greift man hier in die Selbstbestimmung der Eltern ein? UNICEF Deutschland spricht sich zusammen mit allen Kinderorganisationen, dafür aus die Kinderrechte, genau so wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention vereinbart worden sind, auch in die deutsche Verfassung hineinzuschreiben. So dass es für kein Gericht, kein Parlament, keine Organisation die mit Kindern arbeitet, und auch keine Privatperson einen Zweifel geben kann dass diese Rechte in Deutschland gelten. Kinder sind eben „keine kleinen“ Erwachsenen. Sie sind eigene Persönlichkeiten und brauchen besondere Rechte und besonderen Schutz. Und: Sie müssen angehört werden in den Angelegenheiten, die sie betreffen.
Und jetzt spanne ich den Bogen dann wieder zu unserem Thema hier: ein Kindergrundrecht hätte die Kraft den Skandal der Kinderarmut deutlich zu benennen. Das wäre auch ein gutes Argument für eine Art Kindergrundsicherung, die habe ich ja schon erwähnt. „Kinder sind unsere Zukunft“, heißt es ja in unzähligen Reden. Darum müssen die Kinderrechte auch in das Grundgesetz. Als Fundament, auf dem gute Kinderpolitik gedeihen kann.
Hoffen wir gemeinsam, dass sich die Koalition in Berlin auch an ihren Vertrag hält, in dem sie vereinbart hat, dies umzusetzen. Drei Millionen Kinder im Deutschland von 2023 in Armut- das ist eine Schande. Dafür sollten wir uns schämen.