05.06.2024, 105. Stiftungsfest 2024

Gastgeber: Die Katholische Deutsche Studentenverbindung Wiking im CV zu Hamburg

Festrede:

Ich bedanke mich, vor allem bei Georg Berssenbrügge für die Einladung, hier an diesem für Sie ja besonderen Stiftungsfest sprechen zu dürfen. Wir haben ein wenig sinniert, was Sie interessieren könnte, und sind dann auf diese besondere Frau gekommen: Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Hamburgerin, Tochter einer Lehrerin und eines promovierten Volkswirtes aus Gera. Warum gerade sie, das hoffe ich, kann ich Ihnen jetzt ein wenig näher bringen.
Die bald 91jährige Lore Maria Peschel-Gutzeit kann alles wie in einem Film erzählen. Sie habe keine retrograde Amnesie. So aufrecht wie nur möglich sitzt sie mir gegenüber. Mit acht Titanteilen in der Wirbelsäule. Mit engen Stützstrümpfen und ungewohnt kurzen Haaren. Aber total klar im Kopf.
„Ich stand an einer Tankstelle morgens kurz vor neun und wollte dort mein Auto waschen lassen. Ich hatte schon eine Waschmarke gekauft und hatte ihn auch schon durch das Wasser laufen lassen, so dass er tropfte.“
Die autobegeisterte Juristin fuhr einen elegant-grauen Mercedes E-Klasse mit Namen „Leonardo“, aber hübscher sei doch „Lio“, berichtet sie. Und Lio stand da und wartete, dass er dran kam. Es war Februar im Jahre 2019. Das Frühjahr schlich sich über den Berliner Himmel zaghaft an. Kein Regen, ein wenig Sonne.
„Ich guckte so ein bisschen wie es weiter geht, und was man so macht, um nicht die ganze Zeit im Auto zu sitzen. Und plötzlich kam von hinten, ohne dass ich es bemerkte, ein Kleinlaster. Der tippte mich an, warf mich total um, mit dem Gesicht nach vorne. Der Fahrer hat es nicht bemerkt, dass er mich umgeworfen hat und rollte einfach weiter über mich drüber. Mit den Hinterrädern hat er mich so erwischt, dass ich dazwischen zu liegen kam. Ich habe geschrien wie am Spieß. Dabei fuhr er immer weiter. Endlich hat er mich dann doch gehört vorne in seiner Kabine. Er hielt an, sprang aus dem Wagen und hat mich zwischen seinen Rädern liegen sehen. Dann zog er mich an den Beinen zwischen den Rädern heraus. Das war der ganze Unfall.“

Ich kannte die Juristin schon seit meiner Jahre bei ML Mona Lisa. Da war sie gerne zu Gast, wenn es um Frauenrechte, Kinderrechte ins Grundgesetz, Scheidung und Ehegattensplitting ging. Wir waren ja damals das einzige Frauenjournal im deutschen Fernsehen. Bis heute übrigends, es ist nichts nachgekommen.
So hörte ich auch von diesem schlimmen Unfall und habe sie angerufen: Was meinst Du, ich komm einmal pro Woche zu Dir und Du erzählst mir wie Du danach Dein Leben gemeistert hast. Und ja, sie sagte zu und so bin ich im vergangenen Sommer zu ihr nach Berlin gefahren und habe sie in ihrer Privatwohnung getroffen.
Ruhig und gelassen kann sie das fünf Jahre später erzählen. Berichten, wie dann die Polizei kam, wie der Tankstellenbesitzer den Krankenwagen gerufen hat. Die Polizisten eine Anzeige aufnehmen wollten. Aber die schwer verletzte Lore Maria schüttelte vorsichtig den Kopf. Nein, den jungen Kerl wollte sie nicht anzeigen. Der saß inzwischen auch auf einer Bank und heulte wie ein Schlosshund. „Der tat mir einfach nur leid“, erinnert sie.
Nach dem ersten Schock kamen die Schmerzen. Wahnsinnige Schmerzen. „Zunächst ist man ja so betäubt durch den Aufprall. Ich habe zuerst auch nur das lädierte Gesicht bemerkt und meinen angeschlagenen Kopf“. Im Krankenhaus brachte ein erstes MRT Klarheit. Kein Hirnschaden, wenigstens das nicht. Die ganze Wirbelsäule meldete sich erst nach und nach. „Tage später merkte ich, dass ich mich nicht rühren konnte. Da war ich dann schon zuhause. Die Klinik hatte mich heimgeschickt. Ich habe auch an den folgenden Tagen versucht ins Büro zu fahren. Selbst zu fahren, klar. Aber mit diesem Rücken ging bald gar nichts mehr.“

Das Ganze passierte 2019. Da war sie ja schon immerhin 86 Jahre alt.
Und darum an dieser Stelle ein Blick zurück auf dieses außergewöhnliche Leben. Bevor ich Ihnen dann von den weiteren Stationen nach diesem Unfall erzähle.
Sie war immer schon eine exzellente Schülerin, gab vielen KlassenkameradInnen Nachhilfe-Unterricht. Sehr früh wusste sie schon, dass sie Jura studieren wollte. Ab 1951 besuchte sie erst die Universität Hamburg und dann die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
1959 mit 27 Jahren legte sie dann die Zweite juristische Staatsprüfung ab. Arbeitete kurz als Rechtsanwältin in Freiburg und folgte dann dem Ruf ihrer Heimatstadt Hamburg, wo sie Richterin am Landgericht Hamburg wurde.
Ihre Schwerpunkte waren schon früh das Familienrecht, die Kinderrechte und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Als Familienrichterin wurde sie am Hanseatischen Oberlandesgericht 1984 in Hamburg nach heftigen Querelen zur ersten Frau und Vorsitzenden des Familiensenats ernannt.
Promoviert hat sie dann sechs Jahre später an der Universität Freiburg mit der Arbeit „Das Recht zum Umgang mit dem eigenen Kinde. Eine systematische Darstellung“.
Vorher hatte die Zeitschrift „Emma“ im Rahmen der PorNo-Kampagne zusammen mit ihr einen Gesetzentwurf erarbeitet. Der wurde damals allerdings noch nicht umgesetzt.
Ein Jahr nach ihrer Promotion zur Dr.jur. wählte sie die Bürgerschaft in den Hamburger Senat. Damit gehört sie dem Senat von Henning Vorscherau an und wurde mit seiner Unterstützung Justizsenatorin. Das blieb sie bis Ende 1993. Dann verlor die SPD, in die sie ja bereits 1988 eingetreten war, die Mehrheit und Lore Maria Peschel-Gutzeit war nicht mehr Justizsenatorin.
Aber ihr Ruf war längst bis nach Berlin gedrungen: dort berief sie Berlin Bürgermeister Eberhard Diepgen als Justizsenatorin und Nachfolgerin von Jutta Limbach.
Doch drei Jahre später schied sie in Berlin aus diesem Amt aus und folgte diesmal dem Ruf von Hamburgs Erstem Bürgermeister Ortwin Runde wieder als Justizsenatorin. Diesmal in einer Koalition mit Bündnis 90/die Grünen. Endgültig aber kehrte sie der Politik den Rücken als bei der Bürgerschaftswahl 2001 die SPD wieder die Regierungsmehrheit verlor.
Während all ihrer Jahre als Justizsenatorin sowohl in Hamburg als auch in Berlin lag ihr Schwerpunkt immer auf der rechtlichen Durchsetzung der im Grundgesetz ja verankerten Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Ihr gelang es einige Gesetzesvorlagen zu verwirklichen. Zum Beispiel die sogenannte Lex Peschel ( § 92 BBG) in dem festgeschrieben wurde, dass Beamte aus familiären Gründen Teilzeitarbeit leisten können. Und als Familienrichterin lag ihr auch die gemeinsame elterliche Sorge am Herzen. Wie sie sich auch dafür einsetzte, dass in Scheidungsfällen auch die Kinder angehört werden.
Sie hat mit über 80 dann noch ein Buch geschrieben über ihr Leben: “Selbstverständlich gleichberechtigt“. Doch nichts war in ihrer Zeit weniger selbstverständlich als Gleichberechtigung.
So, ich denke, Sie haben jetzt einen kleinen Überblick über das berufliche Leben von Lore Maria Peschel-Gutzeit. Das vor allem eines war: Unerschrocken. Denn auch nach dem Unfall gibt es Außergewöhnliches zu erzählen.
Zum Beispiel: Ganz kurz vor dem schrecklichen LKW-Unfall trifft Lore Maria aber noch eine andere, wegweisende Entscheidung: sie verlässt nach zehn Jahren die Sozietät Kärgel/de Maiziere in der Berliner Kurfürstenstrasse. Und gründet eine eigene Kanzlei unter ihrem Namen. Der Grund: die männlichen Kollegen wollten keine weiteren weiblichen Juristinnen aufnehmen. Aber Lore Maria erstickte in Arbeit. Die Fachfrau für Familienrecht konnte sich vor Mandanten aus dem ganzen Land nicht mehr retten. Der Senior der Kanzlei war eigentlich dafür, dass noch mehr Anwältinnen aufgenommen werden würden. Aber die jüngeren Männer, nein, die wollten nicht mehr Frauen, die wollten statt „Familien-Gedöns“ knallharte Wirtschaft. Das bringe mehr Geld war ihr Argument. Der alte Kärgel, mit dem sich Lore Maria bestens verstand, der sie auch einst 2009 an Bord geholt hatte, fand die Idee mit dem Ausbau des Familienrechts interessant. Aber da auch seine Zeit absehbar war, hat er sich dann nicht mehr gegen die „Jugend“ durchgesetzt. Aber Lore Maria war mit ihren „zarten 86 Jahren“ finster entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen, sondern sich ganz neu aufzustellen. Mit ihr die Kolleginnen aus der alten Kanzlei, und natürlich ihre Leibund Magen-Sekretärin Frau Genna, die fast 30 Jahre an ihrer Seite war. Schon in der alten Kanzlei betrieb die Juristin das System der getrennten Kassen: „Es hätte also niemanden und nichts finanziell belastet“, erzählt sie nun fünf Jahre später. „Die jungen Herren wollten einfach keine Schwerpunkt-Praxis Familienrecht, sie wollten das große Geld machen. Und diesen Tüdelkram und den Krach zuhause, das lehnten sie empört ab“. Aber Lore Maria wollte sich jetzt auch keinem neuen Kampf mehr aussetzen. Über 40 Jahre machte sie Familienrecht, rauf und runter. Ihre Vision: eine kleine „Boutique“, die sich auf Familie und Erbrecht spezialisiert. Genau dazu hatten auch die anderen Frauen in der Kanzlei Lust. Jetzt war nur noch die Frage: wo in Berlin?
Lage, Lage, Lage. Lore Maria ist sich darüber klar. Und: es muss der Kurfürstendamm sein. Nicht irgendeine nette Seitenstraße, das geht einfach gar nicht. So wie es in Hamburg nur eine Andresse für Anwälte gibt, und zwar den Neuen Wall. Dazu soll es bezahlbar sein. Alle Vorschläge der Berliner juristischen Freunde taugten nicht. Knesebekstrasse, Bleibtreustrasse, Fasanenstrasse, alles wunderbar, aber nichts für Lore Maria. Sie blieb eisern und bewies mal wieder starke Nerven. „Eines Tages“, erzählt sie mir,“ rief doch ein alter Freund an, ein Baulöwe, ein Immobilientycoon. Ob er mir helfen könne, dürfe?“ Sie erzählte von der Idee der neuen Kanzlei. Er kennt die alte Adresse gut, denn Lore Maria hat ihn auch schon in einigen Familienrechts-Fällen vertreten. Dann antwortet er in seinem „breitesten holsteinischen Dialekt“, so Lore Maria “Ich hätt da was, an der 63 am Kudamm.“ Lore Maria weiß genau, wie sie jubelte und ihn lobte: „Dich schickt der Himmelich hoffe es ist zu bezahlen!“ Ist es, und so kommt sie mit ihren Fachfrauen zu einem wunderbaren Büro in der besten Lage. Ganz hoch oben, im siebten Stock, mit einem Blick über die Dächer von Berlin. „Da kann man wirklich nicht meckern“, sagt sie zu mir, uns lächeln mich dabei herzlich an.
Das Jahr 2018 geht zu Ende. Der alte Boss Kärgel ist unglücklich und alles andere als einverstanden, dass sein „Familienrechts-Zugpferd“ auszieht. Aber: Jetzt muss der Umzug geplant werden. Wer bekommt welches Zimmer? Welche Möbel kommen mit? Was muss neu bestellt, gekauft werden. Aber Lore Maria liegt schwerstverletzt im Krankenhaus. Unfähig sich zu bewegen
Aber: alle ihre Frauen aus der alten Kanzlei haben jetzt alles alleine gestemmt. Es waren jetzt schon vier, die da mithalfen, mitorgansierten. Sie entscheiden, dass das größte, schönste Zimmer mit der Air Condition Lore Maria bekommen soll. Ihre Sekretärin Frau Genna bekommt, verbunden mit einer Türe wie in den klassischen Chefzimmern, das Anschlusszimmer. Auch mit Air Condition. Frau Genna hält auch während der ganzen schlimmen Krankenhauszeit von Lore Maria immer Kontakt, bespricht sogar bald Fälle mit ihr, bringt vieles auf den Weg, damit nicht allzu viel liegen bleibt. Schließlich, da sind sich wohl alle Frauen in der neuen Kanzlei einig: Lore Maria ist einfach ihr Leuchtturm, ihr Zugpferd in Sachen Familienrecht.

Wie geht es weiter nach diesem furchtbaren Unfall? Sie landet in den ersten Tagen nach dem Unfall bei verschiedenen Ärzte, die alle nicht wirklich weiterhelfen. Die Schmerzen werden immer schlimmer. Und keine Besserung in Sicht. Dann endlich: Die Charite in Berlin. Um zehn Uhr abends wurde sie eingeliefertund am kommenden Morgen um 6 Uhr kam sie endlich dran. Es war wohl die Hölle für sie. Die Ärztin ließ nochmals röntgen und der zuständige Professor berichtete ihr dann von acht zusammen gebrochenen Wirbeln. „Die müssen wir alle verfüllen und im Anschluss daran mit Metall ummanteln. Das sind dann Implantate, da nehmen wir ein edleres Metall, zum Beispiel Titan, damit die Wirbel dann auch ihre Form behalten“. So hat Lore Maria auch jetzt noch, als wir uns zu den Gesprächen gegenübersitzen, fünf Jahre später, Implantate im Rücken, die alle mit einem Knopf vorne enden. Ein Knopf, der heraus steht aus der Wirbelsäule. Darum auch die aufrechte Haltung .Sie kann sich nirgends richtig anlehnen, nur wenn es sehr weich ist im Rücken wie in ihrem Spezialstuhl in ihrer Wohnung.
Drei Operationen musste sie durchstehen zwischen Februar und Juni 2019. Weil nicht gleich alle Wirbel verfüllt werden konnten, sondern immer einer nach dem anderen. Dazwischen eine Sepsis, lebensbedrohend, so dass ihre Tochter eilig aus dem Urlaub einflog in Berlin. Erst die dritte Operation war dann endgültig erfolgreich. Aber mit bitteren Folgen für die Patientin.
Denn 2019 war Lore Maria ja auch immerhin schon 86 Jahre alt. Da sind Vollnarkosen kein Spaziergang. Wochenlang lag sie jetzt im Delirium. Zwar mit einem inzwischen stabilen Rückgrat, aber vollkommen „daneben“. Sie hatte das Gefühl irgendwo anders auf der Welt zu sein, in Tel Aviv zum Bespiel, oder sie sei entführt worden. Sie habe ihre Sekretärin im Urlaub angerufen, und so weiter…
Die Tochter Andrea macht sich schlau. Die Ärzte bestätigen, dass sowas in fünfzig Prozent der Fälle passiert. Aber es würde sich wieder geben, argumentieren sie. Jetzt werden dann doch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit Lore Maria´s Hirn wieder richtig arbeiten kann. Mit vielen Medikamenten geht es aufwärts, nach der Charite´ zur Reha nach Alt-Tegel in die Humboldt-Mühle. Spezialgebiet: Neurologie. Die Ärzte wollen sie von den unzähligen Medikamenten entwöhnen, sie sollten so nach und nach abgesetzt werden. Heute nimmt sie einfach keine Tabletten mehr. Schmerzen hat sie aber trotzdem unverändert. An Weihnachten dann, in diesem ereignisreichen Jahr: Entlassung. Aber in welchem Zustand…es ist erbarmungswürdig. Gehen geht kaum, der Rollator hilft bei ihren langsamen Schritten. Der Rollstuhl unterstützt auf längeren Wegen in ihrer Wohnung. Und in der Kanzlei. Denn dreimal die Woche arbeitet die Juristin wieder in ihrer Kanzlei. Nicht zu glauben.

Und das will ich schon auch erzählen, wie dann die Wochen dieser schwer verletzten Frau mit so viel Mut weiter ausgesehen haben. Wie gesagt: Ihr Motto: Aufgeben war nie.
An Weihnachten wird Lore Maria aus der Reha entlassen. Und am 2. Januar rollt sie mit ihrem Rollstuhl hinauf in die neue Kanzlei. Hinein in ihr neues Büro. Die Ärzte im Reha-Zentrum verabschieden sich von ihr mit dem Satz: “Vergessen Sie nie, dass es ein Wunder ist, dass sie überlebt haben“.
Und dann beginnt für die Schwerst -Verletzte und nur mühsam wieder zusammen geflickte Juristin der Alltag. Zuerst rollte sie neugierig durch alle Räume in dieser schicken neuen Kanzlei. Alles, so erinnert sie sich, sei ihr nach den monatelangen Wochen in der Klinik und in der Reha sehr weitläufig vorgekommen. Das schönste Büro haben ihr die Kolleginnen zugedacht. Sie ahnt auch warum: “Sie betrachten mich doch als ihr Flaggschiff. Und haben den richtigen Schluss gezogen, dass man mich auch anständig setzen mussnicht unbedingt in die Besenkammer“. Und in diesem neuen großen wunderbaren Büro beginnt der juristische Alltag wieder. Dreimal die Woche. Montag, Mittwoch und Freitag. Dienstag und Donnerstag kommt zuhause der Physiotherapeut, den sie dringend braucht. Der hält sie beweglich, vor allem übt er mit dem Rücken und dem Nacken, da durch diese Versteifung nach dem Unfall und durch den Einsatz von so viel Metall alles sehr unbeweglich geworden sei. Dazwischen geht sie zu Gericht. Aber nur zu den barrierefreien. Wo sie mit dem Rollstuhl gut „rollen“ kann. Und wenn es Treppen gibt? Ganz einfach, da ziehe ich mich am Geländer hoch, so wie hier unten im Hausgang von meiner Wohnung“, erklärt sie mir. Und ganz wichtig ist für sie, wie sie mir gegenüber immer wieder betont und erklärt, warum sie zum wiederholten Mal vor Gericht zieht: „Meine Mandanten erwarten von mir, dass ich mich auch sichtbar für sie einsetze, und nicht nur vor dem Schreibtisch sitze.“
Ihre Themen unverändert: Scheidungsfolgen, das ist einfach bitter, damit muss sie sich auseinander setzen. „Da ist einmal das Vermögensrechtliche und der Unterhalt“, erklärt sie mir. Aber das Schwierigste dabei: Wer betreut das Kind und vor allem wann. Sie beschreibt weiter die kritischen Themen: “Wechselmodell oder Residenzmodell“. Da würden die Kämpfe ausgetragen. Über Jahr und Tag. Betroffen räumt die Juristin dann auch ein: Die Kämpfe manifestieren sich dann auch in den Seelen der Kinder. Die Kinder werden manipuliert. Willst Du wirklich zu Papa?
25 Gesetze hat sie in ihrem reichen juristischen Leben auf den Weg gebracht. Aber eines ärgert sie unverändert, da hat sich nichts bewegt: das Ehegattensplitting. „Da sitzt die Frau zuhause, der Mann bringt das Geld heim, und weil es sich steuerlich nicht rechnet, bleibt sie weiter zuhause und arbeitet nicht“. Lore Maria erklärt mich wütend,, dass in den Ländern, in denen das Ehegattensplitting abgeschafft wurde, die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen hochgegangen ist. Das ist in den Ländern Großbritannien und Schweden klar zu belegen. Und das gelte besonders für Frauen, die mit gutverdienenden Männern verheiratet seien. Für die habe sich durch die Reform in diesen Ländern der Steuersatz besonders stark geändert. Vor dem Hintergrund eines klammen Etas sticht ihr Argument besonders: „In Deutschland könnte die Bundesregierung dann mindestens 22 Milliarden Euro sparen.“ Aber die Juristin weiß auch, dass das wohl noch ein langer Weg wird, bis das umgesetzt ist.
Von ihren Schmerzen will sie nichts wissen, die übergeht Lore Maria täglich tapfer. Ohne Schmerzmittel, weil sie nicht vergessen kann, wie mühsam es war, die Schmerzmittel nach ihrem Unfall im ersten Jahr wieder aus ihrem Körper „rauszuschleichen.“ So hat es der Chefarzt in der Reha-Klinik genannt.
Wir wollten das Büchlein mit unseren Gesprächen gemeinsam herausgeben. So war der Plan. Aber wir alle wissen, oft kommt es ganz anders.
Ich sitze an einem sonnigen Herbsttag im Garten des Hotels Fonteney mit meinen rotarischen Kollegen. Das klingt das Telefon und ich sehe „Lore Maria“ auf dem Display. „Lore Maria, hallo, was kann ich für Dich tun?“ Pause…und Frau Gemma, ihre Sekretärin schluchzt nur:
„Frau Dr. Peschel-Gutzeit ist am Samstag verstorben“.
Sie war wohl, wie ich später erfahren habe, an diesem Samstag allein in der Kanzlei gewesen, da muss ihr der Rollator, oder der Rollstuhl, davon gerollt sein, sie stürztund keiner ist da. Erst zwei Stunden später wird sie gefunden, mit einer ersten Embolie. In der Klinik dann die zweiteund das Ende. Und sie wollte doch so gerne ihren 91 Geburtstag genauso groß feiern, wie den 90. Im Capital-Club mit vielen Freunden….